Vor kurzem hat sich Prof. Wolfgang Butzkamm schon in der Diskussion über den Fluch der Einsprachigkeit (in den Kommentaren) zu Wort gemeldet. Hier nun ein weiterer Beitrag von ihm zum Thema Grammatikeinführung. Mit den Nachteilen der rein induktiven Methode habe ich mich schon mal in meinem Beitrag „Heiteres Grammatikraten“ beschäftigt.
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Vor kurzem erreichte mich folgende Email aus einem Gymnasium:
„Neulich hat ein Referendar wieder einmal versucht, Grammatik (das Gerundium) mit der Methode nach Ziegesar einzuführen, also erst viele Beispiele und am Ende die Grammatikerläuterung. Meine Beobachtung ist erneut gewesen, dass man, egal wie gut vorbereitet dieses „Sprachbad“ auch sein mag, kein durchdringendes Verständnis, also dein Doppelverstehen, der Struktur bei den Schüler erzielt. Zumal, wenn es sich um eine Struktur handelt, die im Deutschen kein echtes Äquivalent hat. Auch der Weg, die formal grammatikalische Erläuterung ans Ende zu setzen scheint mir nicht sinnvoll, da zum einen bei den Schülern ein Verstehensdefizit entsteht – als routinierte Lerner wollen sie wissen, wie die Struktur funktioniert und nicht hingehalten werden (den Unmut haben die Schüler auch geäußert) – und zum anderen die Einführung neuer sprachlicher Mitte nicht mit theoretischer Grammatikerläuterung sondern mit kreativer und spontansprachlicher Anwendung abgeschlossen werden sollte. Ich habe ja deine halb-kommunikativen Übungen um Elemente der Arbeit mit Dialogen erweitert – mit großem Erfolg. (Klasse 8, Klett Green Line 4, Unit 3, S. 48 Language 1 Tired of driving).
1. Beispiele: Struktur im Kontext
2. Struktur formal/inhaltlich verstehen/übersetzen
3. Drill
a) L macht muttersprachliche Vorgaben, S „übersetzen“
b) S machen muttersprachliche Vorgaben, S „übersetzen“
c) S sagen fremdsprachliche Sätze
4. Sätze schreiben
5. Text schreiben
6. Alltagssituationen-Dialog mit Partner(n) vorbereiten (nicht fertigschreiben, sondern über Inhalt verständigen)
7. Dialog spontan/ohne Textstütze vor der Klasse durchführen
8. In ein Gespräch verwickeln, falls möglich neue Struktur forcieren
9. Optionale Hausaufgabe: Audio- oder Videoblog mit neuer Struktur
Am Ende der Doppelstunde kann (fast) jeder Schüler die neue Struktur in einem mehr oder minder spontanen Kontext anwenden. Das Gute an dieser Vorgehensweise ist zudem, dass man unzählige Punkte hat, an denen man sieht, ob oder inwieweit die Schüler die Struktur beherrschen und man korrigierend eingreifen kann.
Kurzum, wir brauchen bei der Grammatikeinführung die Strukturübungen als Abkürzung zum Erfolg. In leistungsstarken Klassen könnte man direkt alle drei Gerundiumsformen herausziehen und nach anfänglich separaten Satzvorgaben mehr und mehr mischen.
1) Doing stuff with you guys is so much fun.
2) You love telling everyone how cool driving is.
3) But Dean, you’re so good at skiing. / I dream of being my own boss.
Auch hier wieder eine gute Möglichkeit zur Differenzierung: Wenn ich merke, dass schon die ersten Form Schwierigkeiten bereitet, kann ich (z.B. in leistungsschwachen Gruppen) spontan mehr Übungszeit durch mehr Satzvorgaben einräumen, bevor ich zur nächsten Gerundiumsform komme.“
Bilinguale, halbkommunikative Strukturübungen werden im Detail vorgestellt im Kapitel „Richtig üben: das generative Prinzip“ bei W. Butzkamm, Lust zum Lehren, Lust zum Lernen (Amazon). Den Buchbeitrag „Grammar in action – the case for bilingual pattern drills“ (2002) kann man kostenlos hier lesen.
Susann
Vielen Dank für den „Strukturtipp“.
Ich kann Ihnen zur zustimmen, meiner Erfahrung nach sind gerade die schwächeren Schüler (die ja durch dieses „heitere Grammatikraten“ – genialer Ausdruck ‑anscheinend besonders motiviert werden sollen) durch die „Leite die Regel ab“-Methode ziemlich überfordert und geben entmutigt auf.
Stefan
Gerne würde ich mal den konkreten Unterrichtsgang entlang der neun Punkte sehen; was heißt beispielsweise „Struktur formal/inhaltlich verstehen/übersetzen“?
Ich kann mir gut vorstellen, warum die „routinierten Lerner“ gerne direkt die Regel hätten: es ist nicht so anstrengend wie das induktive Erschließen (bei mir meistens mittels kontextualisierten Filtertext).
Jochen
> es ist nicht so anstrengend wie das induktive Erschließen
Richtig, was ist so wertvoll daran, das Verstehen von Grammatik „anstrengend“ zu gestalten?
Schätzt DU es beim Lernen einer Fremdsprache auch, wenn du erstmal rumraten sollst, wie irgendwas funktioniert, oder hast du es auch lieber, wenn dir ein Lehrer, ein Buch, Computerprogramm oder was auch immer kurz, verständlich und effizient erklärt, wie man z.B. Bedingungssätze im Spanischen/Italienischen/Russischen … bildet?
Stefan
Ich glaube, dass der Aha-Effekt beim induktiven Erschließen größer ist. Der Schüler erkennt dabei Regelmäßigkeiten und eventuell auch Brüche in der grammatikalischen Struktur. Das kann ja auch gerne zweisprachig/im Sprachkontrast erfolgen, ich gehe da völlig konform mit Herrn Butzkamm (tausend Dank für die Erläuterungen, ich schaue bei Gelegenheit genauer in die Beispiele 🙂
Und ja, wenn ein Lehrer den Filtertext und die anschließende Strukturierung anständig gestaltet, würde auch ich als Lerner gerne induktiv arbeiten. Aber wie viele Kollegen machen das? Zumindest in Italienisch gibt es quasi null Material dazu, die Erstellung ist oftmals sehr aufwendig, dann greift man auf die deduktive Variante zurück. In Englisch ist das nicht anders, oder?
Trotzdem, im Lehrervortrag knicken doch viele Schüler nach wenigen Minuten weg und bekommen die dichte Stofffülle gar nicht in den Griff („Normalerweise ist das so…, das macht ihr so… aber dann gibt es die Ausnahmen … *schnarch* …) ; der Aha-Effekt wird in die Übungsphase verlagert, wenn die Schüler typische Fehler machen. Ich erkläre auch nicht jede Grammatik auf induktiven Weg, Infinitivkonstruktionen mit/ohne Präpositionen bieten sich beispielsweise dafür nicht an, das ist null Spannungseffekt dabei.
Aber kann es eventuell sein, dass ihr die Neugier der Schüler etwas unterschätzt, also etwas selbständig zu knacken?
Jochen
> Aber kann es eventuell sein, dass ihr die Neugier der Schüler etwas unterschätzt, also etwas selbständig zu knacken?
Freu dich, wenn du Schüler hast, die „neugierig“ auf Grammatik sind. Meine sind das zum überwiegenden Teil nicht und ich habe auch gar kein Problem damit, denn mich hat Grammatik in ihrem Alter auch nicht die Bohne interessiert. Auch heute finde ich sie nicht sonderlich spannend und habe selber auch nicht das Bedürfnis irgendwas zu „knacken“.
Stefan
Meine Schüler rufen auch nicht „Bitte mehr Grammatik, Herr Lehrer“, aber was spricht dagegen, ein grammatikalisches Phänomen in Hinblick auf Bildung und vor allem Funktion problemorientiert erarbeiten zu lassen?
Wolfgang Butzkamm
Die ganze Übungsfolge kann ich hier nicht im Detail vorstellen. Aber danke, Stefan, dass Sie mir die Gelegenheit geben, zu erläutern, was es heißt, eine Konstruktion sowohl inhaltlich wie formal zu verstehen. Ich nenne es Doppelverstehen, und es ist für mich die Grundbedingung jeden Spracherwerbs, sowohl notwendig als auch hinreichend.
Ein paar Beispiele:
See you tomorrow. Schüler, die das nur hören, verstehen das inhaltich ganz richtig: Bis morgen. Aber erst wenn sie das auch formal verstehen als „Seh euch morgen“ (= verstehen, wie diese Bedeutung aus den einzelnen Komponenten erzeugt wird), können sie nicht nur eigene Sätze bilden wie see you next week, sondern auch see you at the gym.
Türkisch karnim ac (sprich atsch) heißt „ich bin hungrig“. „Bauch-mein hungrig“ erklärt die Bauform und macht es uns möglich, eigene Sätze analog zu bilden
Finnisch: Onko Teillä ravintola? heisst: Haben Sie einen Speisewagen? oder Gibt’s hier einen Speisewagen? Aber erst die muttersprachliche Spiegelung klärt die formale Struktur: Ist ko (=Fragepartikel) Ihnen Speisewagen? und kann unseren Satzgenerator ankurbeln.
Zurück zum Englischen: He wants us to copy this down. Die Schüler sollten beides im Kopf haben. 1. Wir sollen das abschreiben. Also die Idee des Sollens mit dem typischen englischen Ausdruck dafür verbinden: want s.o. to do. Oder auch: Er will, dass wir… 2. *Er will uns das abzuschreiben. Man muss also auch erkennen, wie der anglophone Sprecher es formuliert, welche Form er dieser Idee gibt.
Ein letztes Beispiel. How do you say: What time is it? fragt man mich. „Wie spät ist es?“ sage ich ihm. Und er ist mit dieser Formel stets kommunikativ erfolgreich. Aber erst, wenn ihm die Bauform bewusst ist: How late is it? That’s what the Germans say, kann er auch fragen: wie alt…, wie groß…usw, also „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen“ (Humboldt). Das ist der springende Punkt beim Spracherwerb.
Comprehensible input, verstanden als „understanding messages“ (Krashen), ist notwendige Grundbedingung des Spracherwerbs, aber nicht hinreichend!
Wolfgang Butzkamm
Ich habe glatt vergessen zu sagen, dass ich erst kürzlich zwei Beispiele für bilinguale Strukturübungen ins Netzt gesetzt habe, und zwar in
Fremdsprachendidaktik & Spracherwerb => English articles => A new way to teach grammar: the bilingual option. Könnte hilfreich sein. Kommentare erwünscht.
Uwe
Ich erprobe seit Beginn dieses Schuljahres den bilingualen Ansatz sowohl im Englischunterricht einer 5. Klasse als auch im Französischunterricht einer 9. Klasse (4. Lernjahr).
Es ist verblüffend wie schnell die Schüler sich neue Konstruktionen zu eigen machen, wenn man ihnen einmal Bedeutung und Aufbau muttersprachlich erklärt und dann selber loslegen lässt.
Dazu nutze ich im Anfangsunterricht gern die Sandwich-Methode nach Butzkamm und zum Festigen die Austauschübungen. Hier ein Beispiel für mündliche Austauschübungen des Gerundiums als Subjekt im Englischen:
Lehrer rückt Beispielsatz in den Fokus: „Playing video games is fun!“ (Er lässt übersetzen bzw. fragt nach gelungenen Entsprechungen im Deutschen; z.B. „Videospiele spielen macht Spaß!“ / *Spielen Videospiele ist Spaß.) Wenn man die Wort-für-Wort-Bedeutung so muttersprachlich klarmacht und anschließend ein zweites Beispiel nennt: „Reading is fun!“, dann kommen die Schüler gleich dahinter, wie es abläuft. „Aha, Tätigkeit mit dieser ING-Endung dran.“
Bittest du dann die Schüler, folgende Sätze nacheinander mündlich auf Englisch zu formulieren, so klappt das garantiert. Lehrer nennt deutsche Entsprechung, Schüler nennen schnelle die Lösung auf Englisch:
– *Bücher lesen ist Spaß.
– *Filme sehen ist Spaß.
– Denken ist anstrengend.
– Denken ist wichtig.
– Schlafen ist einfach.
– Kochen ist einfach.
– Musik hören macht Spaß.
– Dich zu sehen macht mich glücklich.
– etc.
Damit keine Langeweile aufkommt, sollte man so umgangssprachlich wie möglich die deutschen Vorgaben formulieren bzw. mit viel natürlicher Betonung.
(Das ganze kann man auch von den Schülern als Partnerübung mit Tandembogen absolvieren.)
Anschließend lässt man die Schüler selber Sätze bilden oder zu einem vorgegebenen Thema kleine Texte anfertigen. So erkennt man schnell, wo es noch klemmt.
Selbst im Französischen schaffe ich es , dass Schüler, die sich als nicht sprachbegabt einschätzen, sagen: „Das ist ja einfach.“
Ich kann es jedem nur empfehlen.