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Schulkummer

Ein Gast­bei­trag von Clau­dia Boer­ger.

Kürz­lich beschwer­te sich eine Kol­le­gin über einen in der Nach­bar­schu­le sit­zen­ge­blie­be­nen und sich durch sein auf­fäl­li­ges Ver­hal­ten schwer­lich inte­grie­ren­den Neu­zu­gang ihrer 7. Klas­se. Der Jun­ge wür­de nicht signa­li­sie­ren, er wäre ger­ne Teil der neu­en Klas­se. Die­ses sei aber als „der Neue“ sei­ne Auf­ga­be, damit die Mit­schü­ler auf ihn zuge­hen könnten.

Die­se Erwar­tung kann ich beim bes­ten Wil­len nicht ver­ste­hen; mit Ver­laub, ich fin­de sie unsin­nig, um nicht zu sagen bru­tal, wird doch Unmög­li­ches ver­langt. Wie soll so ein armer drei­zehn­jäh­ri­ger Kerl, gera­de die ver­trau­te Schul­um­ge­bung ver­las­sen habend, vor aus­nahms­los frem­de Mit­schü­ler und Leh­rer gestellt, anstands­hal­ber simu­lie­ren, er füh­le sich wohl? Denn simu­lie­ren müss­te er dies sicher­lich, „wohl“ kann er sich ja kaum füh­len. Nicht nur durch das Fremd­sein muss ihm hun­de­elend sein. Dem erbar­mungs­lo­sen Höhe­punkt öffent­lich attes­tier­ter Inkom­pe­tenz, d.h. dem Sit­zen­blei­ben gehen ja für gewöhn­lich jah­re­lan­ge Demü­ti­gun­gen und damit ein­her­ge­hen­der Selbst­wert­ver­lust durch stän­dig abge­straf­te Nicht-Erbrin­gung von Leis­tung vor­aus; mit ande­ren Wor­ten zuvor hagel­te es Fün­fen und Sech­sen, wel­ches den Jun­gen durch die schluss­end­li­che Nicht­ver­set­zung nun­mehr offi­zi­ell als den „Dum­men“ stig­ma­ti­siert. Mein Gott, muss das hart sein.

In dem Buch Schul­kum­mer von Dani­el Pen­nac (Ama­zon) nimmt sich der Autor aus eige­ner quä­len­der Schul­ver­sa­ger-Erfah­rung berich­tend in lie­be­vol­ler Wei­se genau die­sen Schü­lern an. Er beschreibt die Nöte und see­li­sche Pein der Klas­sen-Schluss­lich­ter, die auf Fran­zö­sisch sehr poin­tiert als Can­cre bezeich­net wer­den. Pen­nac erzählt sehr poe­tisch-berüh­rend und damit für vie­le von uns Leh­rern, die ja zumin­dest in dem Fach, das sie unter­rich­ten, in der Regel nie ver­sagt haben, gleich­sam sehr erhellend.

Pen­nac schafft es sehr herz­be­we­gend, Ver­ständ­nis und Zuge­wandt­heit für jene Schü­ler-Kli­en­tel zu gewin­nen, über die wir nicht sel­ten ver­är­gert reagie­ren, weil sie unse­ren Unter­richt durch ihr Nicht-Kön­nen (zer)stören als woll­ten sie durch Nicht­er­brin­gung von Leis­tung uns absicht­lich prü­fen oder rei­zen. Die­ser leh­rer­sei­ti­ge Ärger, so der Autor, stam­me aber viel­mehr aus der uns durch den Can­cre deut­lich gespie­gel­ten Unfä­hig­keit, als Leh­rer die­sen im Unter­richt mit­zu­neh­men, ver­mit­telt er uns so doch das Selbst­bild eines ohn­mäch­ti­gen und hilf­lo­sen Päd­ago­gen: „Der Ein­sam­keit des Kin­des ent­spricht mei­ne eige­ne Ein­sam­keit als Erwachsener.“

Durch die Schil­de­rung eige­ner Erfah­run­gen mit „trost­lo­sen Pei­ni­gern“ und sol­chen „von anste­cken­der Lei­den­schaft beseelt“ plä­diert Pen­nac in einer der The­ma­tik ange­mes­se­nen Emo­tio­na­li­tät für ein neu­es, für ein bes­se­res Schü­ler­bild. Leh­rer müs­sen befä­higt wer­den, die zutiefst ein­sa­me mensch­li­che See­le hin­ter den ver­meint­li­chen Stö­ren­frie­den zu sehen, denn damit – und das ist die opti­mis­ti­sche Bot­schaft des Buches – kann ihnen gehol­fen wer­den. Den schu­li­schen Schluss­lich­tern soll­te unse­re gan­ze Auf­merk­sam­keit gel­ten und unser Ver­ständ­nis von Lehr­kunst müs­se gera­de dar­in bestehen, auf jene päd­ago­gisch zu fokus­sie­ren, die die meis­te Unter­stüt­zung und Zuwen­dung brau­chen: „Klu­ge Päd­ago­gik soll­te uns den Can­cre als den Nor­mal­fall dar­stel­len, der unse­re Leh­rer­tä­tig­keit erst wirk­lich recht­fer­tigt, weil dem Can­cre alles bei­gebracht wer­den muss, ange­fan­gen bei der Not­wen­dig­keit des Ler­nens selbst!“ Dazu gehört im Übri­gen auch, dass wir Leh­rer uns inten­siv mit dem Zustand des Nicht-Kön­nens beschäf­ti­gen, besteht doch ein gro­ßes Han­di­cap der Leh­rer „in ihrer Unfä­hig­keit, sich sel­ber als jeman­den vor­zu­stel­len, der nicht über das Wis­sen ver­fügt, über das sie ver­fü­gen.“

Es ist sicher­lich bis hier­hin schon deut­lich gewor­den, dass ich abso­lut begeis­tert bin von die­sem Buch. Lie­bend ger­ne wür­de ich es zur Pflicht­lek­tü­re der Leh­rer­aus­bil­dung machen, mit der Auf­la­ge ver­se­hen, es alle zwei bis drei Jah­re immer wie­der zur Hand neh­men zu müs­sen. Das The­ma „Schul­ver­sa­ger“ ist ein­fach zu wich­tig und bei Pen­nac lernt man dar­über alles, was es für uns Leh­rer zu wis­sen gilt.

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  1. Lie­be Claudia,

    vie­len Dank für den Hinweis!

  2. Lena

    Schö­ner Bei­trag! Ich wer­de nach dem Buch schauen.

    Neben­bei: jaja, der Dativ ist dem Geni­tiv sein Tod … 😉 Du schreibst oben : „…nimmt sich der Autor … genau die­sen Schü­lern an“. Mit Geni­tiv (und für mein Auge bes­ser) hie­ße das: „… genau die­ser Schü­ler an“.

  3. Magda

    Typisch Leh­re­rin 😉 Wir können’s halt nicht las­sen! Défor­ma­ti­on professionelle?

  4. Rainer

    Lie­be Leh­re­rin Lena!
    Du hast sicherr auch schon gemerkt, dass mitt­ler­wei­le längst der Akku­sa­tiv den Dativ sein Tod is.
    Aber das ist hier völ­lig unerheblich!

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