Was macht eigentlich die gute, alte „Handlungsorientierung“? Noch vor ein paar Jahren musste in jedem Lehrprobenentwurf mindestens fünfmal das Wort „handlungsorientiert“ vorkommen, in letzter Zeit ist es hingegen merkwürdig ruhig geworden um diesen wunderbaren Begriff.
„Handlungsorientierung“ hatte in der Praxis meistens zwei Bedeutungen. Die erste setzte ’sprechen‘ einfach mit ‚handeln‘ gleich. Jedes Mal, wenn der Schüler etwas sagt, „handelt“ er, „begeht eine Sprechhandlung“ oder – noch aufgeblasener – „vollzieht einen Sprechakt“. „Sprechakt“ fand ich immer toll, jeder noch so läppische Schülerbeitrag wird durch diesen Begriff mit der Aura des Bedeutenden geadelt, außerdem weckt der Begriff auch noch erotische Assoziationen. „Handlungsorientiert“ in diesem Sinn heißt dann nichts anderes, als dass die Schüler möglichst viel und der Lehrer möglichst wenig sprechen sollen.
Die zweite Bedeutung interpretiert „handeln“ als etwas (mit den Händen) „machen“ oder „sich bewegen“. Entsprechend zerschnipseln Schüler Texte, arrangieren die Schnipsel neu, kleben sie auf Poster, werfen sich bei Grammatikübungen Bälle zu, laufen im Klassenzimmer herum („Laufdiktate“) usw. Natürlich sind all diese Sachen lustiger als konzentriert am Platz zu sitzen, deswegen galten sie eine Zeitlang als „motivierend“. Ob man allerdings Bedingungssätze besser lernt, wenn man einem Mitschüler einen Softball ans Hirn schmeißt, ist noch nicht endgültig erwiesen.
Derzeit ist natürlich „Kompetenzorientierung“ angesagt. In jedem Lehrprobenentwurf muss jetzt mindestens fünfmal … Der Begriff suggeriert, dass man sich zum ersten Mal in der Geschichte des Unterrichtens an den zu erwerbenden Kompetenzen orientiert, während man früher sozusagen „orientierungslos“ …, äh, woran hat man sich eigentlich früher orientiert? An den eigenen Hobbies, am Lehrplan, am Stand der Sonne …? Es wird suggeriert, dass man früher einfach so drauflosunterrichtet hat, ohne überhaupt zu wissen, was man da eigentlich macht bzw. was man damit genau erreichen will.
Unfassbar, dass man früher einfach gesagt hat „Max ist gut in Englisch“ und jeder das verstanden hat: Max hat eine gute Aussprache, solide Grammatikkenntnisse, einen großen Wortschatz und kann sich gut ausdrücken. Um dasselbe heute auszudrücken, muss man eine lange Liste von Kompetenzen herunterleiern. Und überzeugte Orientierungskompetenzler sind fest davon überzeugt, dass eine hohe „kommunikative Kompetenz“ irgendwie bedeutender sei als „Er kann sich auf Englisch gut unterhalten.“
Das ganze Wortgeklingel (spätestens mit dem nächsten Lehrplan bekommen wir garantiert wieder eine neue „Orientierung“) soll lediglich verschleiern, dass unsere Bedingungen durch Stundenkürzungen, immer größere Klassen, allgemeine Arbeitszeiterhöhung etc. immer schlechter werden und wir natürlich schlechtere Qualität produzieren. Zum Ausgleich dürfen wir brav mit wohltönenden Begriffen spielen.
Claudia Boerger
„Es wird suggeriert, dass man früher einfach so drauflosunterrichtet hat, ohne überhaupt zu wissen, was man da eigentlich macht bzw. was man damit genau erreichen will.“
Naja, Pisa laesst das ja auch vermuten …
Davon abgesehen: Guter Unterricht bleibt ja guter Unterricht. Neu ist einfach, dass die Bildungsplaene die Kompetenz- und damit Schuelerorientierung endlich aufgenommen haben (Bleib ruhig Jochen, es folgt noch ein Schlagwort 😉 „Vom Input zum Output“). Ich gebe dir aber Recht, dass durchaus suggeriert wird, bisher haette man gar nicht kompetenzorientiert unterrichtet, was nicht durchgaengig stimmt, zumindest nicht im Fremdsprachenunterricht. Ich habe den Eindruck, dass fuer uns Fremdsprachler dieses Kompetenzdenken bereits eher verinnerlicht ist („communicative competence“), waehrend dies fuer andere Faecher (Mathe, Nawi) doch schon neuer ist. Dort war man, so habe ich mir sagen lassen, doch vornehmlich kenntnisorientiert eingestellt und hat Fertigkeiten/Fähigkeiten und Einstellungen/Haltungen als weitere Elemente des im Bildungsplan zugrundegelegten Kompetenzbegriffs nicht so sehr im Blick gehabt.
Jochen
> waehrend dies fuer andere Faecher (Mathe, Nawi) doch schon neuer ist.
Mag sein, kann ich nicht beurteilen. Kann mir auf der anderen Seite aber überhaupt nicht vorstellen, dass ein Lehrer NICHT am Output seiner Susen interessiert sein kann. Ist das nicht einfach ein schlechter Lehrer, pardon, Lehrender? 😉
> und Einstellungen/Haltungen
Damit bin ich immer vorsichtig. Erstens kann ich die nicht überprüfen und zweitens wird so getan, als ob ich nur eine Unterrichtseinheit z.B. über Immigration machen brauche und schon hat keiner mehr was gegen Türken.
herr larbig
Also, meine Erinnerung an den Unterricht in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehen schon anders aus als der Unterricht, den ich heute erlebe. Da haben sich nicht nur die Verpackungen geändert, sondern der gesamte Anspruch an die Schülerinnen und Schüler.
Allerdings: Von Handlungs- zu Kompetenzenorientierung ist es kein sehr weiter Schritt, auch wenn der Kompetenzenbegriff durchaus etwas anderes meint, als das Erstellen von Plakaten (oder heute angedacht und teilweise schon praktiziert: von Blogs und Co).
Es ist ein Unterschied, ob jemand sagt, das Max gut in Englisch sei oder wenn jemand genau sagen kann, was für dieses »gut« steht. Das macht sich vor allem bei »schlechten« Schülern bemerkbar, da hier über eine Analyse dessen, was denn nun mit »schlecht« gemeint ist, über Kompetenzen sehr deutlich die Stärken und die Schwächen heraus gearbeitet werden können. Noch ein Schlagwort: Hier wird die diagnostische Arbeit von Lehrenden (und damit ist nun nicht die Erhebung von Krankheitssysmptomen gemeint!) nach heutigem Stand der Forschung professionalisiert, was zumindest bei Gymnasiallehrern durchaus Aha-Erlebnisse auslösen kann, wenn sie mit entsprechenden Materialien in Kontakt gebracht werden – so zumindest meine Erfahrung im Rahmen einer Fortbildung in diesen Bereichen, an der ich beteiligt war.
Damit wird freilich nicht suggeriert, dass früher alles schlechter gewesen sei. Jede Lehrergeneration arbeitet nach bestem Wissen und Gewissen und dem Stand der jeweiligen Forschung. Das steht für mich außer Frage. Wir reden hier immerhin von einem Beruf mit gewaltigen Ansprüchen.
Interessant finde ich aber die Reaktion älterer Kollegen, die neue Ansätze meist damit abtun, dass es schon sooooo viiiel neues gegeben habe, dass auch wieder gegangen sei. Das wird dann allerdings als Begründung dafür genommen, dass die pädagogische Forschung nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. (Das richtet sich ausdrücklich nicht an dich, Jochen, denn deine kritische Reflexionstiefe hier im Blog zeigt ja gerade, dass du am Ball bleibst und immer mal wieder Unterricht aus der Schülerperspektive im Rahmen der Referendarsausbildung erlebst. Das finde ich übrigens auch enorm erfrischend!)
Ein Problem gibt es allerdings wirklich: Die Ansprüche an die Differenziertheit von Unterricht, Beratung, Förderung etc. steigen ständig, die Klassengrößen, die Stundenzahl etc. sinken aber nicht. Das lässt so manches Gute an den heute aktuellen Ansprüchen an Unterricht dann auch wieder ins Leere laufen…
Herr Rau
Ich bin auch kein großer Fan von Kompetenzen. „Produktionsorientiert“ gab’s zwischendurch auch mal.
Outputorientiert gefällt mir als Konzept dagegen gut, auch wenn das Wort sehr hässlich ist. Denn das findet de facto oft nicht statt.
Unterricht in den 80ern: Ich kann mich noch an sehr viel aus meiner Schulzeit erinnern. Wenig produktions‑, wenig handlungsorientiert. Viel im Dialog, anderes im Lehrervortrag. Für den Schülertyp, dem ich angehörte, war das richtig.
Jochen
> “Produktionsorientiert” gab’s zwischendurch auch mal. Outputorientiert gefällt mir als Konzept dagegen gut, auch wenn das Wort sehr hässlich ist.
Stimmt. Mir gefallen beide Begriffe nicht, weil ich immer die ökonomische Bedeutung assoziiere:
„Ein Produkt ist laut Produktionstheorie Ergebnis (engl.: Output) eines vom Menschen bewirkten Transformationsprozesses, in dem Produktionsfaktoren (engl.: Input; namentlich: Güter, Dienstleistungen, Energie) unter Berücksichtigung von Wissen und unter Beachtung sozio-kultureller Nebenbedingungen in einen Output (Güter, Dienstleistungen, Energie, Abfall) umgewandelt werden. (Wikipedia: Produkt (Wirtschaft))
Da braucht man dann nur ein paar Wörter zu ersetzen (z.B. „eines vom LEHRER bewirkten Transformationsprozesses“) und schon hat man eine fürchterliche Definition von Schule.
Warum bleiben wir nicht bei unseren guten alten Fähig- und Fertigkeiten oder – wenn’s unbedingt englisch sein soll – den bewährten ’skills‘?
Claudia Boerger
@Jochen
„Warum bleiben wir nicht bei unseren guten alten Fähig- und Fertigkeiten oder – wenn’s unbedingt englisch sein soll – den bewährten ’skills’?“
Weil der Kompetenzbegriff mehr umfasst: Kenntnisse, Faehigkeiten/Fertigkeiten und Haltungen/Einstellungen.
So ganz verstehen kann ich euch, Jochen & Herr Rau, nicht mit eurer eher schoengeistigen Analyse der Benennung; auf den Inhalt kommt es doch an. Ich glaube naemlich nicht, dass der Grossteil bundesrepublikanischen Unterrichts kompetenzorientiert gefuehrt wird. Selbst der Englischunterricht wird immer noch vielerorts inputmaessig durchgezogen „Wir nehmen jetzt modals durch“, welche dann in Lueckentexten sehr stumpf abgefragt werden, ohne dass den Schuelern (und Lehrern) bewusst klar ist, was die S jetzt damit eigentlich (anfangen) koennen. Das ist schoen, dass einige Kollegen wie ihr, (vielleicht sind es auch viele) bereits selbstverstaendlich kompetenzorientiert unterrichten, es ist aber auch schoen, dass es fuer die weniger anspruchsvollen Kollegen durch die Bildungsplaene nunmehr verbindlich wird, dass sie umdenken muessen.
Jochen
> Selbst der Englischunterricht wird immer noch vielerorts inputmaessig durchgezogen “Wir nehmen jetzt modals durch”, welche dann in Lueckentexten sehr stumpf abgefragt werden, ohne dass den Schuelern (und Lehrern) bewusst klar ist, was die S jetzt damit eigentlich (anfangen) koennen.
Offensichtlich denken wir an bzw. erleben völlig unterschiedlichen Unterricht. Modals ohne Verknüpfung mit Sprechabsichten ist doch einfach Quatsch.
Schon in der uralten (aber immer noch sehr guten) „English G Grammatik“ (Cornelsen) von 1987 (!) gibt es ein eigenes Kapitel (S. 56 ff.) über „Sprechabsichten, die durch modale Hilfsverben […] ausgedrückt werden“. Wenn es erst eine „Kompetenzorientierung“ braucht, damit Lehrer sowas – nach mehr als 20 Jahren – zur Kenntnis nehmen, dann gebe ich dir vollkommen recht 😉
Claudia Boerger
Welchen Englischunterricht ausser deinen eigenen erlebst du denn?
Jochen
Unmittelbar erlebe ich natürlich nur meinen eigenen und den der StRef, die ich betreue (an meiner Schule gibt’s keine gegenseitige Hospitation). Aber natürlich erzählen meine eigenen Kinder, eigene und fremde Schüler und Referendare bzw. Kollegen von ihrem Unterricht. Schüler unterhalten sich z.B. in der Sportumkleide oft derart laut, dass man sozusagen zuhören MUSS 😉
Claudia Boerger
Referendare gilt nicht; die muessen ja nun (sogar uebertrieben) am Puls der Zeit arbeiten; „Belauschtes“ von S kann ich mir auch nicht als zuverlässige Quelle in punkto „Kompetenzorientierung“ vorstellen. Wie sollte da der Mitschnitt sein? „Stell dir vor, die Boerger hat bei uns modals eingefuehrt ohne uns die Sprechabsicht deutlich zu machen. Die hat sie doch nicht alle!“ ?!? Und die Kollegen, die von ihrem Unterricht erzaehlen, werden sich ebenfalls nicht selber „anzeigen“ bzw. wenn sie das tun, sind das auch die „self-reflective practitioners“, die gar nicht so viel anrichten. „Das Boese“ lauert glaube ich im Verborgenen …
Jochen
> Referendare gilt nicht; die muessen ja nun (sogar uebertrieben) am Puls der Zeit arbeiten
Aber sie erleben in ihren „Hörstunden“ doch auch ganz normalen Unterricht. Warum sollen diese Erfahrungen nicht gelten?
> “Belauschtes” von S kann ich mir auch nicht als zuverlässige Quelle in punkto “Kompetenzorientierung” vorstellen.
Na ja, was ist schon „zuverlässig“? Aber du hast doch auch ein bestimmtes Bild von deinen lieben Kollegen/innen? Du weißt, wer sich durchsetzen kann, wer fachlich schwach bzw. eine Niete ist, wer immer gleich rumbrüllt usw. Dieses Bild setzt sich auch aus verschiedenen Puzzleteilen zusammen, von denen jedes einzelne auch nicht „zuverlässig“ ist.
Claudia Boerger
Aber sie erleben in ihren “Hörstunden” doch auch ganz normalen Unterricht. Warum sollen diese Erfahrungen nicht gelten?
Ja, aber sie „laestern“ doch nicht mit/vor dir ueber grottenschlechten Unterricht deiner Kollegen, oder?
Jochen, bevor wir aneinander vorbeireden, wir sind uns doch einig, dass es, wie in jedem anderen Beruf auch, gute und schlechte Vertreter des Berufstandes gibt, oder? Ich wollte eigentlich nur sagen, dass es fuer letztere nicht schlecht ist, dass sie nun theoretisch gezwungen sind, umzudenken, weil die Kompetenzorientierung durch die Bildungsplaene verbindlich geworden ist. Ob das praktisch geschieht steht natuerlich auf einem anderen Blatt; Renitenz kann man von offizieller Seite wahrscheinlich auch nicht mehr beeinflussen.
Jochen
> Ja, aber sie “laestern” doch nicht mit/vor dir ueber grottenschlechten Unterricht deiner Kollegen, oder?
Doch 😉 Außerdem schreiben mir ja auch andere StRef, die ich persönlich gar nicht kenne.
> Ich wollte eigentlich nur sagen, dass es fuer letztere nicht schlecht ist […]
Ganz klar, keine Frage.
Und ich wollte eigentlich nur (satirisch überspitzt) klarmachen, dass vieles was als „Innovation“ daher kommt, Selbstverständlichkeiten terminologisch aufbläst.